Das Haus Weststr. Nr. 9
wurde 1902 umgebaut und aufgestockt. Damals hieß die Weststraße noch
„Große Weststraße“. Dies geschah zur Unterscheidung zur „Kleinen
Weststraße“, so hieß damals die heutige Martin-Luther-Straße. Umgebaut
wurde das Haus für die Restauration „Bayrischer Hof“, die sich im
Erdgeschoß genau an der Stelle befand , an der heute „Chen`s Restaurant“
seine Gäste willkommen heißt. Inhaber des „Bayrischen Hof“ war Heinrich
Hötte, der in dem Hause auch wohnte. Die Innenansicht auf alten
Postkarten zeigt, dass der „Bayrische Hof“ fast detailgenau so aufgebaut
war, wie es heute „Chen`s Restaurant ist. Auch damals gehörte die
Adresse Große Weststraße 9 schon zu den besten Adressen der Stadt Hamm.
Erwähnt wird der „Bayrische Hof“ schon im Meldebuch der Stadt Hamm von
1886 . Geschichten lange vor dieser Zeit belegen aber, dass der
„Bayrische Hof“ noch viel älter war.
Links neben dem
„Bayrischen Hof“ befand sich das „Cafe Plate“, damals wohl das
beliebteste Cafe in Hamm. Rechts neben dem „Bayrischen Hof“ eröffnete
1908 der Vater des bekannten Hammer Geschäftsmannes Peter Rosenberger,
das erste Geschäft „Rosenberger“. Das war in dem Geschäftslokal, wo sich
heute „Kodi“ befindet. Nach dem zweiten Weltkrieg beherbergte das Haus
Weststraße 9, welche im dritten Reich „Adolf-Hitler-Str.“ hieß, nun das
Lokal „Quelle“. Nach leichten Bombenschäden war die Front umgebaut
worden und hatte nun zwei Eingänge. Links war wie heute der Eingang zur
„Quelle“ und zum Wohnhaus, rechts war ein Eingang, der in den heutigen
hinteren Bereich von „Chen`s Restaurant“ führte und der von der „Quelle“
abgetrennt war. Hier führte Erhard Hesse die „Isabell-Bar“. Übrigens der
Erhard Hesse, der später für Berni Cornfeld die berühmt berüchtigte
IOS-Aktie vermarktete, die auch der FDP-Chef Erich Mende anpries. Hesse
gab dann die „Isabell-Bar“ auf und zum Ende der 60er Jahre verschwand
die Bar und die „Quelle“ allein war im Erdgeschoß Weststraße 9 Mieter.
Später übernahm die Sparkasse Hamm die Räumlichkeiten. Im Jahr 2006
erwarb der Hammer Geschäftsmann Chen das Haus und errichtete an
historischer Stelle erneut ein Restaurant. Chen war den Hammensern schon
aus der Nordstraße bekannt, hatte er doch schon lange ein Restaurant im
Haus Hasebrink geführt.
Wie spielte sich das Leben
im Hause Weststraße 9 eigentlich in früheren Jahren ab. Dazu eine
Geschichte aus alten Tagen. Niedergeschrieben nach alten Unterlagen der
Frau Ilsemarie von Scheven, ehemalige Stadtarchivarin der Stadt Hamm.
Die Niederschrift befindet sich in der Polizeihistorische Sammlung
Hamm.
Es ist nun auch schon
wieder geraume Zeit her, da zeichnete ein betagter Hammer
Handwerkmeister auf, was sich in der Familienüberlieferung als
köstliche Anekdote erhalten hatte:
„Mein Großvater war bei der
Revolution von 1848 als Feldwebel in Münster. Bei der Niederkämpfung der
Aufstände hatte man ihm mit einer Dachpfanne das Schienbein schwer
verletzt. Im Lazarett ausgeheilt, war er nach 14jähriger Dienstzeit das
Soldatensein leid. So bekam er die schöne Stellung als Polizeidiener
nach Hamm, mit einem schönen Gehalt von zehn Talern im Monat, dazu ein
Häuschen am Ostentor (gegenüber unserer heutigen Stadtbücherei). Nach
heutigen Begriffen ähnelte es eher einem Hühnerstall; dazu gehörte ein
Streifen Land zwischen Ost- und Widumstraße.
Damals war ein Hammer
Stammlokal, wo sich alles traf, der „Bayrische Hof“, Große Weststraße
(später: Die Quelle und heute „Chen`s Restaurant“). Ein Liter Bier vier
Pfennig ! Hier ging es meist hoch her. Sommertags war in Hamm um 10 Uhr,
im Winter um 9 Uhr Polizeistunde. Auf dem Kirchturm befand sich die
Nachtwächterstube, von wo aus die Stadt, wegen Feuersgefahr, immer in
Augenschein genommen werden konnte.
Die Trunkenbolde, wie man
zu sagen pflegte, zogen nach der Polizeistunde oft johlend und
triumphierend durch die Stadt nach Hause. Die Frauen, mit Bettjacke
bekleidet, standen am Fenster und beschimpften die nach Hause ziehenden
Nachtschwärmer. Gegen diese letzteren nun sollte der junge Schutzmann
energisch einschreiten. Mit zweistöckigem Polizeihelm und krummen Säbel
tat er das auch. Einige Radauhelden wurden verdonnert, ein „Käßmännken“
Strafe zu zahlen(25 Pfennig). Man muss bedenken; Die Leute verdienten
nur eine Mark pro Tag, bei zwölfstündiger Arbeit ! Am nächsten Abend
war man über den jungen Ordnungshüter sehr erbost. Es wurde Kriegsrat
gehalten, wie man denn wohl diesem infamen Schutzmann einen Streich
spielen könne...?
Der November brachte viel
Schnee. Also wurde im geheimen beschlossen, den Aufpasser mitsamt seiner
Familie im Schnee einzuschaufeln ! Gesagt, getan. Die jungen Leute vom
„Bayrische Hof“ wurden alarmiert, sich mit Schaufeln zu bewaffnen. Ein
Doppelposten wurde ausgestellt. Er sollte aufpassen, wann die Familie
schlafen ginge. Das Häuschen am Ostentor war mit Blendladen versehen,
mit Ausguckherzen darin. Wie nun die Polizistenfamilie zu Bett war,
zogen die Attentäter mit Schüppen los. In lautloser Arbeit wurde das
Schneewittchen-Häuschen sorgfältig mit Schnee eingedeckt, ganz und gar.
Alles lag in süßer Ruhe.
Obwohl es Nacht war, ging die Nachricht rasch von Haus zu Haus. Im
Morgendämmern versammelten sich allerlei Schaulustige: alle wollten doch
sehen, wie der Polizeimächtige in seinem Schneewittchen-Haus
eingeschaufelt war ! Zuerst wurde seine Frau wach. „Ferdinand, stoh op,
es wird Tiet !“ Der Ehemann sah zum Fensterherzchen, - alles dunkel. „Dreih
die üm un schlopp !“ knurrte er.
Nach einiger Zeit
wiederholte die junge Frau ihre Worte, Ferdinand müsse aufstehen. Er
antwortete nach einem Blick zum Herzchen, genau wie zuvor, sie möge
weiterschlafen. Schließlich wurde sie energisch: „Ferdinand, -ick glöw
dat bald Mittag iss !“ Also stand er auf, machte sich dienstfertig,
schnallte um und ergriff die Pickelhaube. Vergebliches Rütteln an jeder
Tür! Alles fest. Die Fenster dunkel, die Laden gingen nicht auf !
Etwas verdattert stieg er die Leiter zum Boden hinan. Auch hier war
alles dunkel. Vorsichtig nahm er ein paar Dachpfannen in die Höhe und
spähte hinaus. Und da sah er die Bescherung: Sein ganzes Häuschen stak
im Schnee ! Wie er nun so mit der Pickelhaube auf dem Kopf durch die
Dachpfannen guckte, rief alles; „Er iss schon opp !“ Derweil läuteten an
der katholischen Kirche die Mittagsglocken.
Ganz Hamm hat gelacht, und
wie ! Jeder, der dem famosen Schutzmann begegnete, meinte schmunzelnd: „
Du hast aber gut geschlafen!“ Am Abend, im „Bayrischen Hof“, ging das
Gelächter erst richtig an. Aber seinen Dämmerschoppen hatte der Gefoppte
gratis. Den hatten die Schneeschaufler im voraus für ihn bezahlt.“
Nachsatz des Verfassers:
Bei dem obigen
Polizeidiener handelte es sich um den Ferdinand Marx aus Hamm. Marx war
verheiratet mit der Anna Maria Henriette geb. Schultze aus Schmiedberg
in Sachsen. Nach seinem Tode 1884, zog Henriette Marx in das Haus Große
Weststr. 14. Ein Bild sehen Sie in der Anlage. Da nach der obigen
Erzählung Marx etwa um 1850 Polizeidiener geworden war, dürfte sich die
Geschichte etwa in dieser Zeit ereignet haben. Zumindest war also der
„Bayrische Hof“ bereits in dieser Zeit ein beliebtes Hammer Restaurant.
In Unmittelbarer Nähe des
„Bayrischen Hof“, Am Marktplatz, stand übrigens die „Germania“. Das war
ein Kriegerdenkmal, welches in der Straßenflucht der Großen Weststraße
und der Oststraße auf dem Marktplatz seinen Platz hatte. Das Denkmal war
am 22.3.1875 enthüllt worden. Es zeigte die „Germania“, zur Erinnerung
an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Übrigens hatte sich von
den Nachbargemeinden nur Rhynern an den Baukosten beteiligt. Umgesetzt
wurde das Denkmal 1914. Es musste einer zweiten Spur von
Straßenbahnschienen weichen und wurde auf den Hügel am Großen
Exerzierplatz gebracht, wo es noch heute steht.
Ein Nachsatz sei mir noch
erlaubt. Die Große Weststraße hieß bis ins 18. Jahrhundert „In der
Hökerei“. Der Ausdruck „Hökern“ kommt aus dem Plattdeutschen und
bedeutet soviel wie Handeln, Kaufen und Verkaufen. Am bekanntesten ist
deshalb auch heute noch der Ausdruck etwas „verhökern“, was einfach
verkaufen heißt. Eine „Hökerei“ ist also ein kleiner Laden. Genauso sah
es „In der Hökerei“ damals auch aus. Kleine 2geschossige Kaufmannsläden
standen in der späteren Großen Weststr.. Nach dem 2. großen Brand der
Stadt Hamm von 1748, wurden nur noch vorgeschriebene 2geschossige
Traufenhäuser errichtet, da man glaubte, die Giebelhäuser haben zu der
erheblichen Brandgefahr beigetragen. Erst ab 1870 wurden dann in der nun
auch schon Große Weststraße genannten Straße, Häuser auch 3geschossig
errichtet.
( Die
Information zum letzten Absatz erhielt ich ebenfalls von Frau von
Scheven) |