Die „Reichskristallnacht“ in Hamm |
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Von Polizeihauptkommissar a.D. Siegfried Paul |
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Zur Vorgeschichte: |
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Am 7.November 1938 verübte der erst siebzehnjährige
deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan ein Attentat auf den
deutschen Legationsrat Ernst von Rath in Paris. Es war eine Tat, die
Grynszpan in ohnmächtiger Wut verübte, nachdem er erfahren hatte, dass
17000 Juden auf Veranlassung der Gestapo aus Deutschland ausgewiesen
worden waren und sich nun in Lagern im Niemandsland zwischen Polen und
Deutschland aufhielten. Polen hatte die Juden, die nach dort abgeschoben
werden sollten, nicht aufgenommen. In den Lagern dort herrschten
unbeschreibliche Zustände. Krankheit und Tod war an der Tagesordnung.
Grynszpan wusste, dass auch seine Eltern sich in einem solchen Lager
befanden und wollte wohl ein Fanal setzen. |
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Dies Attentat, von Rath verstarb am 9. November, war
nun der Vorwand für Verfolgungen, die wie eine Welle über die Juden
hereinbrachen. Obwohl sie als spontane Aktionen der Bevölkerung
ausgegeben wurden, waren sie jedoch geplant und gingen von der
NS-Führung aus.
In München hatte die NSDAP am 9. November eine
Gedenkfeier angesetzt, auf der an den Hitler-Putsch vom 9. November 1923
und an dessen Opfer, gedacht werden sollte.
In einer antisemitischen Hetzrede hatte Joseph
Goebbels die Stimmung im Festsaal angeheizt, wohl auf Veranlassung von
Adolf Hitler, und dabei schon angekündigt, das weitere „Ausbrüche des
Volkszornes“ zu erwarten seien. Schon am Vorabend, dem 8. November, war
es vereinzelt zu Ausschreitungen gegen Juden gekommen. Goebbels kündigte
weiter an, dass die Partei Aktionen gegen Juden nicht organisieren
werde, aber wenn sie entstünden würden sie auch nicht behindert werden.
Diese Rede wurde von den anwesenden Gauleitern der Partei natürlich
verstanden. Telefonische Befehle an ihre Unterführer waren die Folge,
die diese Hinweise an die SA weiterleiteten. Damit war dem größten
Pogrom in der gleichen Nacht grünes Licht gegeben. Vor allem die SA und
auch die Hitler-Jugend, legten Brände in jüdischen Synagogen, zerstörten
jüdische Geschäfte und plünderten sie. Jüdische Mitbürger wurden
misshandelt und verhöhnt. |
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Die Bilanz des Pogroms, das am 10. November für beendet erklärt
wurde: |
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Mehr als 1000 ausgebrannte Synagogen, mindestens
8000 zerstörte Geschäfte, zahllose verwüstete Privatwohnungen. Die Zahl
der getöteten jüdischen Bürger wird mit 90 bis 100 angenommen. Die
Schäden beliefen sich in Millionenhöhe. Das alles wurde im Volksmund
verharmlos mit dem Begriff: |
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„Reichskristallnacht“. |
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Dieser Begriff wurde wegen der unzähligen
zerschlagenen Schaufensterscheiben geprägt.
Das diese Nacht kein spontaner Akt des Volkszornes
war, an den auch niemand glauben wollte, bewiesen dann die folgenden
Tage. Im gesamten Reich wurden 30 000 jüdische Männer verhaftet und in
die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen
verschleppt.
Die Reaktion der Bevölkerung auf die Ereignisse
der Nacht und die folgenden Verhaftungen war unterschiedlich. Nur eine
Minderheit der Bevölkerung beteiligte sich an den Plünderungen und
Ausschreitungen, die Mehrheit war eingeschüchtert und zeigte sich eher
angewidert von den pöbelnden Gewaltaktionen. Die Meisten blickten wohl
nur einfach weg. Allerdings gab es auch eine wenige Bürger, die den
jüdischen Mitbürgern halfen. |
(Quelle: Prof. Dr. Hans-Ulrich
Thamers. Auszug aus „Nationalismus II“ der Schriftenreihe „Informationen
zu politischen Bildung“ der Bundeszentrale für politische Bildung. |
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Die Ereignisse in Hamm:
Bis Mitte der 60er Jahre wurde
in Hamm in der Öffentlichkeit kaum über die Reichskristallnacht
gesprochen. Im WAK wurde damals eine Sonderseite zum 9, November
veröffentlicht, auf der noch berichtet wurde, dass die Hammer Synagoge
in Brand gesteckt wurde. Dies hatte dann zur Folge, dass Hammer Bürger
sich zu Worte meldeten und über die Ereignisse berichteten. Schnell
wurde richtig gestellt, dass in Hamm die Synagoge nicht abgebrannt wurde
sondern geplündert und verwüstet. *1) |
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Dazu ein Bericht des Polizeibeamten Johannes Schade, der diese Nacht
als junger Bursche miterlebt hatte. Johannes Schade wohnte in der
Innenstadt und erinnerte sich recht gut.: |
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"Ich wohnte als Junge in der Innenstadt. Diese Nacht
vergesse ich natürlich nicht. Als dann die Nazis die Synagoge anstecken
wollten, Fackeln hatten sie ja genug in Brand, hätten sie von der
aufgebrachten Bevölkerung fast Schläge bekommen. Die Leute hatten ganz
einfach Angst, dass dann die gesamte Altstadt abbrannte. Die Synagoge
lag ja mitten im eng bebauten Gebiet. Das hat dann wohl auch den Nazis
eingeleuchtet und die Synagoge blieb von Feuer verschont. Dafür wurde
dann aber alles in ihr kurz und klein geschlagen. Auch am anderen Tage
lagen dort noch überall Scherben und Möbelreste." |
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Soweit der Bericht des Kollegen Schade, der mir später außerdem noch
sagte, dass er in dieser Nacht nicht einen Polizisten auf der Straße
gesehen habe. |
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Andere Kollegen berichteten später, dass ein Befehl
vorgelegen habe, dass die Polizei nicht ausrücken durfte. Dieser Befehl
war geheim und nur der Gestapo und dem Polizeidirektor bekannt. Für den
9.11.1938 wurde in Hamm eine normale Dienststärke eingerichtet, die
aber auf Befehl des Polizeidirektors Mählich in der Göringstraße
verblieb. (Die Hohe Str. war in Göringstraße umbenannt worden). In
dieser Nacht hatte auch der Polizeibeamte Franz Heitböhmer Dienst.
Heitböhmer war damals Fahrer des Kommandeurs der Schutzpolizei. Nach dem
zweiten Weltkrieg versah der Kollege dann seinen Dienst bei der
Autobahnpolizei in Kamen. Kennen gelernt habe ich ihn, da wir jahrelang
im gleichen Hause wohnten. Doch hier der Bericht von Franz Heitböhmer.:
„ Natürlich waren wir alle verwundert und auch
beunruhigt. Wir kamen wie immer zum Dienst und durften plötzlich die
Polizeidirektion nicht verlassen.*2) Dies galt auch für die Kollegen des
neuen 1.Reviers in der Bismarckstraße. *3) Selbst bei meinem Kommandeur
konnte ich nichts erfahren.
Das änderte sich jedoch bald. Die gesamte
Dienstschicht wurde zu einem Großbrand am Ortsgüterbahnhof geschickt.
Dort brannte bei unserem Eintreffen das Sägewerk Glunz. Auch die gesamte
Hammer Feuerlöschpolizei (heute Feuerwehr) war dort im Einsatz. Während
des Einsatzes hörten wir dann erstmals davon, dass in der Stadt Unruhen
seien und Geschäfte und Wohnungen geplündert würden. Wir hörten auch,
dass SS und SA beteiligt seien. Natürlich kannten wir nicht die Befehle,
die unserer Führung vorlagen, wir selbst durften aber nicht in die
Stadt. Das muss man sich einmal vorstellen. Die Polizei hört von Unruhen
und darf nicht an den Tatort. Es war unvorstellbar.
Allerdings konnte sich dann der Kommandeur,
Polizeimajor Stolzenberg, nicht zurückhalten. Obwohl keiner von uns in
die Stadt durfte, ließ er mich kommen und befahl mir, Zivil anzuziehen.
Er selbst kleidete sich ebenfalls um und ich musste mit ihm nun mit
unserem zivilen Mercedes durch die Stadt fahren. Dabei musste ich große
Sorgfalt walten lassen, damit uns keiner erkannte und wir nicht in die
Tumulte gerieten. Major Stolzenberg hatte mir ganz klar gesagt: „ Wenn
man uns sieht, ist dass das Ende unserer Polizeilaufbahn.“
In der Stadt habe ich dann gesehen was los war.
Zuerst fuhren wir zur Heßler Straße. Dort an der Ecke zum heutigen
Otto-Krafft-Platz wohnte Dr. Berla. Die Fenster des Hauses waren
zertrümmert und die Einrichtungsgegenstände lagen auf der Straße.
Überhaupt war dies in der gesamten Stadt bei jüdischen Gebäuden der
Fall. In der Gasstraße, heute am Stadtbad, dort war eine Kaffeerösterei,
bei Fahning (heute Kaufhof), bei Ter Veen, an der Synagoge in der
Kleinen Weststraße,*4) am Brüderhaus und in vielen anderen Fällen. Alles
war zerschlagen und Glassplitter und Möbel bedeckten die Straße.
Dazwischen sah ich SS und SA-Männer mit brennenden Fackeln. Diese
Pogromstimmung kann man nicht beschreiben. Es war schrecklich. Anhalten
durfte ich nicht, sondern musste dann wieder zur Polizeidirektion
fahren. *5)
Major Stolzenberg war nach dieser Fahrt sichtlich
„geschafft“. Er sprach kein Wort *6). Heute noch gehen mir diese Bilder
nicht aus dem Kopf. Aber wir konnten einfach nichts machen. Welche
Folgen uns erwartet hätten, dürfte schon eine kleine Begebenheit zeigen.
Meine Frau hatte in der Liebfrauenkirche bei einer Abstimmung für die
konfessionelle Schule unterschrieben. Allein deswegen musste ich zur
Gestapo. Andere Kollegen kamen wegen unbedachter Äußerungen mit dieser
Dienststelle in Berührung *7). Nackte Angst beherrschte uns teilweise.
Es ist ja auch heute nicht mehr zu verstehen. Aber eins sollte man
bedenken, nachdem wir von der Reichswehr zur Polizei gekommen waren,
wurden wir Anfang 1938 geschlossen in Formation zum Amtsgericht geführt.
Dort mussten wir unseren Kirchenaustritt erklären.*8) Diese Zeit, in der
wir für unsere Familien und uns selbst das Schlimmste befürchten
mussten, kann heute nicht mehr beschrieben werden.“ |
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*1) Die Hammer Synagoge wurde später auf Kosten der
jüdischen Gemeinde Hamm abgebrochen. Zum Text der Abbruchverfügung der
Stadt Hamm sehen sie Anlage 02. |
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*2) Der Grund lag möglicherweise in einem
„Blitz-Fernschreiben“ des SS-Gruppenführers Heydrich, welches in der
Anlage 01 abgedruckt wird. |
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*3) Das 1. Polizeirevier war erst im Oktober in die
Bismarckstraße verlegt worden. Von dort fand der Streifendienst zu Fuß
und mit dem Fahrrad statt. In der Polizeidirektion befand sich der
Kraftfahrdienst und das Überfallkommando, sowie die 1/3 Hundertschaft,
die bei geschlossenen Einsätzen zum Einsatz kam. |
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*4) Die Adresse der Synagoge war Königsstr. Nr. 5.
Von dort aus war die Synagoge auch zu erreichen. Die jüdische Schule lag
an der Kleinen Weststraße (heute Martin-Luther-Str.) Neben der Schule
war eine Toreinfahrt, die aber nur zur Rückseite der Synagoge führte.
Siehe auch Bildseiten. |
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*5) Franz Heitböhmer war Angehöriger der 1/3
Hundertschaft und versah von dort seinen Dienst als Kraftfahrer beim
Kraftfahrdienst im Hofe der Polizeidirektion, in der Kraftfahrabteilung. |
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*6) Major Stolzenberg wurde im November 1944 nach
Schneidemühl versetzt. Dies war offensichtlich als
Disziplinierungsmaßnahme erfolgt, weil Stolzenberg auf einer
Kommandeurstagung auf die Frage, warum er noch immer keine Kinder habe
antwortete: „ Das kann ich in diesen unruhigen Tagen nicht
verantworten.“ |
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*7) Der dienstverpflichtete Polizeibeamte der
Reserve, Egbert Ter Veen, wurde z.B. wegen einer Äußerung die sich gegen
die führende Partei richtete, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ter
Veen wurde dann zur „Erziehung“ in ein Strafbataillon versetzt. |
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*8) Trotzdem hat es in Hamm Polizeibeamte gegeben
(z.B. Johannes Kunz aus der Gemeinde St. Agnes) die den Kirchenaustritt
nicht vollzogen und die nicht weiter verfolgt wurden. Kunz war am
1.6.1941 dienstverpflichtet worden und gehörte dem SHD, später der
Luftschutzpolizei an. Er unterstand dem Polizeirat Leise. Über Leise und
Kunz wurden häufig die Angehörigen von Gestapo-Gefangenen über deren
Verbleib unterrichtet. |