Viele ältere Bewohner der „Neuen Kolonie“
in Hamm- Heessen, werden sich erinnern, wenn der Name „Nissenhütten“
fällt. Anderen wiederum sagt er überhaupt nichts. Wer oder was waren nun
diese „Nissenhütten“?
„Nissenhütten“ nannte man seit 1840
Gebäude aus vorgefertigten Blechteilen, die der englischen Offizier
Peter Nissen entwickelt hatte. Sie bestanden aus Wellblech, welches in
Form einer halben Tonne auf die Erde gelegt wurde. Ihre Kopfstücke
wurden zunächst mit Holzwänden versteift. Sie konnten in großer
Stückzahl gefertigt werden, waren schnell aufzubauen, gut zu
transportieren und daher kostengünstig, vor allem von der Armee zu
verwenden. Da sie nicht isoliert waren, wurden sie vor allem in den
englischen Kolonien eingesetzt.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden diese
„Nissenhütten“ als Notunterkünfte vor allem in den britisch besetzten
Gebieten Deutschlands aufgebaut. Die vorgefertigten Wellblechteile
wurden natürlich aus England eingeführt und vor Ort zusammen gebaut.
Dabei entstanden Nothäuser in variabler Länge, die mit gemauerten Wänden
an den Enden versteift wurden. Im Inneren wurden leichte Zwischenwände
gezogen. So entstanden Wohnungen aus Wohnküchen, zwei Schlafzimmern
Speisekammer und einem Abstellraum. Die Wohnfläche betrug ca. 40 qm und
beherbergte durchaus auch zwei Familien. Es kam aber auch vor, dass bis
zu 10 Personen in einer Wohnung lebten.
In Heessen wurden 17 „Nissenhütten“ am
Neuen Kamp errichtet. Der „Neuer Kamp“ war ein ehemaliger
landwirtschaftlicher Weg, der zwischen Vogelsang und Mansfelder Str. in
Richtung Uedinghoff, dem ehemaligen Bauhof der Zeche Sachsen führte.
Neben diesem Weg war eine Wallhecke, die mit Bäumen durchsetzt war und
die Felder des Bauer Vogelmann begrenzten. Dieser Weg wurde vor allem
benutzt, um den Dasbecker Friedhof zu erreichen, der seit 1930 in
Betrieb war. Auch andere landwirtschaftliche Wege durchzogen das
Gelände, so z.B. hinter den Häusern der Mansfelder Str. bis zur
Lütticher Str. (später Rosa Luxemburg Str.), zum Konsum Nüsperling.
Dieser Konsum lag an dem Teil der Lütticher Str., der zwischen
Mansfelder Str. und der Uedinghoffstr. liegt.
Der landwirtschaftliche Weg, der nun zur
Straße „Neuer Kamp“ wurde, wurde im Herbst 1947 planiert und es wurden
die ersten Grundmauern gegossen. Damit war der Bau der „Nissenhütten“
vorbereitet und die Errichtung der Wohnungen richtete sich nur noch nach
dem Eintreffen der Wellblechteile. An der Baustelle war auch eine
Feldlorenbahn aufgebaut, die dem Transport der Baustoffe diente. Da
diese Bahn von der Uedinghoffstraße zur Mansfelder Str. hin nicht
unerhebliches Gefälle aufwies, war hier nach Feierabend ein idealer
Spielplatz für die Jugend aus der „Neuen Kolonie“ und dem Vogelsang
entstanden. Nach einem Unfall, bei dem ein Kind schwer verletzt wurde,
stellte der Bauherr, die Zeche Sachsen, einen Nachtwächter ein. Dies war
der Berginvaliden Ferdinand Kalisch, der in der „Neuen Kolonie“, in der
Lütticher Str. 26 wohnte.
1948 begann dann die eigentliche Montage
der „Nissenhütten“ und im Mai 1948 zogen die ersten Familien dort ein.
So zog am 5. Mai 1948 die Familie Springfeld als Erstbezieher in die
„Nissenhütte“ Neuer Kamp 2 ein. Nach Berichten der Familie Springfeld,
waren die Nissenhütten 2 Monate zuvor fertiggestellt worden. Insgesamt
standen 17 „Nissenhütten“ am „Neuer Kamp“. 15 der Hütten standen mit
der Kopfseite zum Neuen Kamp und Hütten standen mit der Kopfseite zur
Uedinghoffstr. Nur am Rande sei vermerkt, dass die Straße von der
Jugend in der Neuen Kolonie nur „New Camp“ genannt wurde. In späteren
Berichten tauchte dann auch die Bezeichnung „Klein London“ auf, die aber
wohl nur von Außenstehenden genutzt wurde.
Ab 1949 zeichnete sich dann der Neue Kamp
als Brennpunkt für die Heessener Polizeidienststelle ab. Schlägereien,
vor allem unter Alkoholeinfluß, Diebstähle, aber auch Messerstechereien,
waren bald nichts Besonderes mehr. Aber auch andere Vorfälle dort sind
mir noch in Erinnerung. So gab es eine „Engelmacherin“ und einmal war
ein Todesfall nach einer Abtreibung zu beklagen. Betrugsfälle waren
eigentlich an der Tagesordnung. Da wurde z.B. von einem Händler
Waschpulver in großen Mengen bestellt, allerdings vergessen zu bezahlen.
Ein anderer Bewohner hatte versucht, mit einer Nutriazucht Geld zu
verdienen. Die legte er in einem Abwasserschacht hinter den Häusern an,
der eigentlich zum Abwassersystem gehörte. Der Gipfel war erreicht, als
Hundefleisch verkauft wurde, das angeblich gegen Rheuma helfen sollte.
Ja es war eine wilde Zeit und die dort lebenden Menschen waren teilweise
durch den Krieg völlig entwurzelt. Gleiches war ja auch in anderen Not-
und Behelfswohnungen anzutreffen. Hier verweise ich auf die Siedlung am
„Schacht III“ und auf die Barackensiedlung auf dem alten „Schießstand“
der Wehrmacht, am Leerfeldweg. Diese Siedlung erhielt auf Antrag der KPD
im Rat der Gemeinde Heessen den Namen „Karl-Liebknecht-Siedlung“.
Übrigens wurde auch die Lütticher Str. in Heessen auf Antrag der KPD in
Heessen in „Rosa-Luxemburg-Str.“ umbenannt. Die Bewohner wurden nicht
befragt, demokratische Spielregeln waren noch nicht geläufig.
In allen Fällen gab es unter den Bewohner
natürlich auch ganz “normale“ und „gesetzestreue“ Bürger und genau diese
versuchten nun schnell in andere Wohnungen zu gelangen. In vielen
Fällen gelang es allerdings erst nach Jahren.
Die „ Nissenhütten“ in Heessen hatten
erst nach rund 11 Jahren ausgedient. Bis dahin haben viele Einwohner
gewechselt und „Neue“ mussten einziehen. Die Vorgänge dort habe ich
selbst erlebt, wohnte ich doch damals in Heessen, Lütticher Str. 26 und
der Berginvalide Ferdinand Kalisch war mein Großvater. Meine Tante
wohnte im dritten Haus an der Mansfelder Str. und sie erlebte dort das
tägliche Leben hautnah mit. Mit Jürgen Springfeld, dem damaligen
Bewohner des Neuer Kamp 2, bin ich noch heute befreundet und er hat mir
freundlicherweise die nachfolgenden Bilder zur Verfügung gestellt.
Ironisch meint Jürgen heute manchmal, dass außer ihnen noch eine zweite
Familie dort wohnte, die lesen und schreiben konnte. Natürlich ist dies
bewusst übertrieben.
1959 wurden die Häuser an der
Marienburger Str. bezugsfertig und die Familie Springfeld zog aus den
„Nissenhütten“ aus. Zu dieser Zeit waren die zwei „Nissenhütten“ an der
Uedinghoffstr. bereits abgerissen und die „Nissenhütten“ 7 bis 13 waren
ebenfalls abgebrochen. Noch brauchbares Baumaterial holten sich die
Bergarbeiter aus den Kolonien. Sie bauten sich Ställe in ihre Gärten.
Nach 11 Jahren hatte dies Provisorium ein
Ende gefunden. Übrigens, die Notwohnungen am Schacht III und auf dem
Schießstand bestanden weiter. In beiden Siedlungen hatte ich ebenfalls
Freunde und auch Schulkollegen.
Bekannt sind mir heute noch folgende
Bewohner der Nissenhütten.:
Nr. 1. Karl Räse , danach Familie
Brettschneider und dann Familie Schlottmann oder Schoppmann
Nr. 2. Familie Springfeld (Erstbewohner,
danach Abriß)
Nr. 3. Familie Schütt, danach Familie
Schlottmann oder Schoppmann, (Verwandtschaft von Nr. 1)
Nr. 4. Familie Korte , später Familie
Grotthoff oder Groothoff, danach Familie Beschnitt.
Nr. 5. Familie Marquardt
Nr. 6. Familie Schmidt
Nr. 8. Familie Heidenreich ( ein Sohn
ging mit mir zur Bockelwegschule)
Nr. 10. Familie Zils ( Sohn war im CVJM
Heessen)
Zu den Feldlorenbahnen ist eine
Anmerkung zu machen. Ein Bahngleis wurde in den 50er Jahren am Wäldchen
an der Uedinghoffstr. verlegt und die Geleise führten zur Ziegelei der
Firma Beumer an der Einmündung Dasbecker Weg- Veistraße. Hinter dem Hof
Uedinghoff bis zum Dasbecker Friedhof wurde damals Lehm abgebaggert und
zu Ziegeln verarbeitet. Für die Kinder aus der Neuen Kolonie natürlich
ein Spaß, auf die Loren zu springen und mit zu fahren. Der Zugführer war
allerdings nicht so begeistert. Später wurde das abgebaute Gebiet wieder
aufgeschüttet und genau an dieser Stelle fand dann das jährlich
Belegschaftsfest der Zeche Sachsen statt, welches zuvor an der
Buschschule und dem TUS-Sportplatz stattgefunden hatte.
Hier muss ich eine weitere Anmerkung
machen. An der Einmündung Mansfelder Str. – zum TUS-Sportplatz, war
damals eine weitere Notunterkunft aufgestellt. Es handelte sich um eine
Baracke, die rechtsseitig, gegenüber der Wohnung des Polizeibeamten
Stecher aufgebaut war. Hier wohnte die Familie Knapp. Herr Knapp war auf
„Montage“ in England und seine Gattin musste als Alleinerziehende
mehrere Kinder erziehen. Leider konnte ich trotz aller Bemühungen keine
Fotos dieser Baracke finden.
In der Anlage können Sie einen
Augenzeugenbericht über das Leben in den „Nissenhütten“ lesen, den
Jürgen Springfeld niedergeschrieben hat.
Übrigens gab es weitere „Nissenhütten“
auch im Ortsteil Herringen.
Nachsatz: Sollte Sie, lieber Leser, noch
Erinnerungen an die „Nissenhütten“, die „Karl-Liebknecht-Siedlung“, die
Siedlung am „Schacht III“, die alte Kaserne in der späteren „Neuen
Heimat“ oder an das Arbeiterlager der Zeche-Sachsen auf dem Knapp haben,
oder sollte Sie sogar noch Bilder von dort haben, setzen Sie sich bitte
mit mir in Verbindung unter: Siegfried Paul, Weidekampstr. 21, 59063
Hamm, oder rufen Sie mich an unter 02381- 25083. Herzlichen Dank. |